Stadtentwicklung: Gütersloh 1868/1910

Neue Reihe

Die "Neue Reihe" war das erste Siedlungsgebiet im Stadtkern, das planmäßig weiter in Richtung Norden ausgebaut wurde. Unter dem heutigen Namen Hohenzollernstraße ist es bekannter als unter dem für die Stadtentwicklung aussagekräftigeren Namen "Neue Reihe".

Die ersten Häuser standen schon 1820 an dieser Straße. Bereits 1840 etwa war die Neue Reihe gepflastert. Doch nur die rechte, der Stadt zugewandte Straßenseite war bis etwa zur heutigen Hausnummer 20 bebaut. Die linke Straßenseite wurde auf der gleichen Länge schon bis 1857 besiedelt.

Die weiter nach Norden ausgreifende Bebauung erfolgte dann einige Jahrzehnte später. 1879 bezog Bürgermeister Mangelsdorf das neu errichtete städtische Gebäude Hohenzollernstraße 28 in Höhe der Roonstraße. Ab etwa 1890 kamen mit dem Lehrerseminar (1893, heute Volkshochschulgebäude an der Hohenzollernstraße) und mit der mechanischen Weberei Niemöller & Lütgert (1893) größere öffentliche und industrielle Bauten hinzu, die die weitere Entwicklung der Straße beschleunigten.

Beiderseits der Neuen Reihe entstanden zusätzlich neue Wohn- und Industriestraße. So konnte 1896 vermeldet werden, die Trasse für die heutige Bismarckstraße sein freigelegt und auch die Roonstraße sei teilweise fertiggestellt.

Schulzentrum Moltkestraße

Die steigenden Schülerzahlen und die Notwendigkeiten der besseren Organisation des Unterrichts veranlassten die Stadtverordneten in den 1860er Jahren zum Bau der "Bürgerschule".

Die Bürgerschule (heute Altstadtschule) entstand in einem zuvor noch relativ unbebauten Teil des Stadtgebietes zwischen der neuen Reihe und der Berliner Straße. Zur Schule gab es mehrere Verbindungswege, doch die heutige Moltkestraße war noch gar nicht und die heutige Schulstraße nur sehr gering ausgebaut. Andererseits lag die Schule im geographischen Zentrum des Stadtgebietes in der Nähe der Gebiete, die – wie die Roonstraße oder die Bismarckstraße - als nächste besiedelt werden konnten.
Die evangelische Bürgerschule bezog ihren Neubau am 20. April 1868. Erstmals waren in diesem Gebäude sämtliche evangelischen Schülerinnen und Schüler und alle Lehrer unter einem Dach vereint. Schulleiter wurde als dienstältester Rektor Ernst Buschmann, der mit inzwischen 40 Dienstjahren in Gütersloh bisher die Schule an der Kökerstraße geleitet hatte.

Am 18. April 1887 bezog die Mädchen-Selecta das neu erbaute Gebäude an der Moltkestraße. Damit begann die Moltkestraße zu einem Schulzentrum zu werden, denn diese Mädchen-Realschule neben der Volksschule mit ihren 1906 rund 700 Schülerinnen und Schülern war nur der erste Ausbauschritt dazu.

Im Jahr 1900 eröffnete die Stadt Gütersloh die Gewerbliche Fortbildungsschule (Berufsschule) als weitere neue Schule. Sie ist als Gebäude mit der denkmalgeschützen Turnhalle von 1903 bis heute ein sichtbares Zeugnis dieser Entwicklung des ehemals kleinen Städtchen zu einem anerkannten Bildungs- und Ausbildungsstandort. Abgeschlosen wurde dieser Ausbau des schulischen Angebotes im Bereich der Moltkestraße 1912 mit dem Bau des Lyzeums gegenüber der Altstadtschule zwischen Moltke- und Hohenzollernstraße.

Industrieansiedlungen

Das Eingemeindungsgebiet von 1868 wurde bis 1896 mit insgesamt 51 Wohnhäusern und gewerblichen Anlagen bebaut. Das veranlasste die Verwaltung darauf hinzuweisen, dass dort "nur noch wenige bebauungsfähige Baustellen vorhanden sind".

Diese Entwicklung galt allerdings für das gesamte Stadtgebiet, denn die Handwerker, Gewerbetreibenden und Industriellen in Gütersloh begannen zwischen 1875 und 1885 zunächst zögerlich mit 52 Baumaßnahmen (41 Neubauten, 7 Anbauten, 4 Umbauten), doch schon in der nächsten Dekade wurden schon 120 Bauten ausgeführt (60 Neubauten, 36 Anbauten, 24 Umbauten). Ihren absoluten Höhepunkt erlebte die gewerbliche Bautätigkeit dann zwischen 1896 und 1906 als 211 Bauten vollendet wurden (73 Neubauten, 78 Ausbauten und 60 Umbauten). In gut 30 Jahren entstanden also 174 gewerbliche Neubauten, die er.

Viele dieser Bauten dienten den für Gütersloh typischen Kleinbetrieben im Hinterhof des Wohnhauses. Erst wenn die Leistungskraft des Unternehmens erwiesen und der Absatz gesichert war, begann die industrielle Expansion der Betriebe.

Neue Eckpunkte der Gewerbeansiedlung und Stadtentwicklung setzten dabei 1887 die Seidenweberei Gebrüder Bartels im Norden und die Bandweberei Güth & Wolf im Westen sowie Niemöller & Lütgert an der Hohenzollernstraße im Nordwesten 1893 des Stadtgebietes.
Besonders auffällig aber auch die Ansiedlung von Betrieben wie der Fleischwarenfabrik Gebr. Wulfhorst 1894 und der Metallwarenfabrik Spreen nördlich der Stadt an der Eisenbahnlinie.

Als erstaunlich muß aus heutiger Sicht der Bau der Fleischwarenfabrik I.F. Marten (1895) an der Bismarckstraße angesehen werden. So stadtnah wurde allerdings auch noch Jahrzehnte später die Fleischwarenfabrik L. Sewerin errichtet.

Die wichtigsten Industrieansiedlungen wurden aber außerhalb des eigentlichen Stadtgebietes zumeist auf Flächen der Bauerschaft Kattenstroth und in Sundern vollzogen. Kattenstroth bot zwischen Dalke und Bahnlinie noch quasi städtisch der Weberei Greve & Güth (1874) Raum, 1906 ging Wilmking mit seinen Produktionsstätten aus der Werkstatt an der Berliner Straße und mit Fissenewert entstand dort 1912 ein weiterer expansiver Betrieb. Sundern im Amt Gütersloh bot für die Webereien Niemöller & Abel (1889) und Wilhelm Bartels (1893) sowie Osthushenrich und Söhne (1913) industriell nutzbare Ansiedlungsflächen.

Zahlenmäßig wenige Betriebe siedelten in Pavenstädt, Blankenhagen und Nordhorn an. Doch Vogt & Wolf als Fleischwarenfabrik bot seit 1889/90 in Pavenstädt vielen Menschen Arbeitsplätze, was ähnlich auch für die Gütersloher Weberei (1886 in Blankenhagen) und später vor allem für Miele & Cie. in Nordhorn galt.

Kreis-Chausseen

Der steigende Waren- und Personenverkehr vor allem auch mit dem Umland von Stadt und Amt Gütersloh stellte in den Zeiten des beginnenden industriellen Wachstums eine der völlig neue Aufgabe für die Kommunen. Die Waren liessen sich nicht mehr mit Karren über ausgefahrene Wege transportieren; sie wurden größer, schwerer und häufiger auf nun notwendigen Transportwagen ausgeliefert oder zur Bahnstation nach Gütersloh gefahren.

1877-79 entstehen zunächst die Chaussee nach Marienfeld, dann 1879-1882 die in Richtung Brockhagen und 1881-83 die Chaussee nach Verl und Neuenkirchen.
Dann blieben lange gehegte und betriebene Bau- und Ausbaupläne für weitere Strecken wie für die nach Herzebrock wegen Schwierigkeiten mit der Ems-Überbrückung und der Kostenaufteilung zwischen Herzebrock, dem Amt Gütersloh und der Stadt Gütersloh lange unterledigt.

Doch dann entstehen wegen des energischen Einsatzes von Bürgermeister Mangelsdorf als Mitglied des Kreisausschusses und des Provinziallandtages in Münster weitere wesentliche Straßenverbindungen in rascher Folge. 1902-1903 wird die Strecke nach Chaussee nach Friedrichsdorf mit Abzweigen als Chaussee befestigt. Im Jahr 1904 entsteht eine chaussse durch Kattenstroth nach Neuenkirchen und 1905 kommt schließlich die Verbindung nach Herzebrock zur Ausführung.

Auch für den Personenverkehr waren diese befestigten Straßen ein Segen, konnten doch auf ihnen die Automobile und auch die Fahrradfahrer ohne größere Störungen vorankommen. Diese Möglichkeit wurde für die Mobilität der Arbeitskräfte nach der Jahrhundertwend von entscheidender Bedeutung.

Der Bau der Kreis-Chausseen war oft durch Gemeinschaftsfinanzierungen der beteiligten Kommunen ermöglicht worden, doch die Unterhaltung der Straßen oblag den Kreis Wiedenbrück.

St. Pankratius Kirche

Die Zahl der Katholiken in Gütersloh und den umliegenden Bauerschaften stieg wie die Gesamtzahl der Menschen in der Region stetig an. Nach 1861 hatte die katholische Gemeinde die alte Kirche trotz des juristisch bestehenden Simultanverhältnisses mit der evanglischen Gemeinde allein weiter nutzen können. Dann aber reichte die Kirche nicht mehr aus, denn die Katholiken organisierten nun überall ein aktives, anziehendes Gemeindeleben. Man sprach in einem Schreiben an das Generalvikariat sogar davon, dass die Gemeinde angesichts der Zustände in der alten Kirche "geistige Verödung" erleide.

Nachdem am 17.11.1887 das Simultanverhältnis an Kirche und Grundbesitz aufgehoben wurde entschieden man sich 1888 für den Bauplatz auf dem Land des Colons Westmöller zwischen dem neuen Friedhof und der Dalke an der Chaussee nach Wiedenbrück, der in der Bauerschaft Kattenstroth außerhalb des Stadtkerns lag..

Die Baukosten wurden durch Kirchenabgaben und Spenden erbracht. Pfarrer Laurentius Becker wandte sich mit einem Spendenaufruf auch an die Katrholiken außerhalb Güterslohs: "Helft uns beim Bau einer Kirche im evangelischen Rom" hieß es unter Anspielung auf die Erweckungsbewegung, das evangelische Gymnasium, den Carl-Bertelsmann-Verlag und die Mehrheit der protestantischen Bevölkerung in diesem Aufruf.

 

Diözesan-Baumeister Güldenpfenig plante den Neubau dieser neugotischen Kirche, den der Soester Maurermeister C. Plassman ausführte. Am 15. Okotober 1890 wurde sie vom Paderborner Weihbischof Dr. Augustinus Gockel geweiht. Die Gütersloher Zeitung berichtete: "Die nunmehr geweihte Kirche erhielt den Namen "St.-Pankratius-Kirche", also den Namen, den die Simultankirche bis dahin getragen hatte".

Die Kirche wurde zur Heimat und zum Kristallisationspunkt des Gemeindelebens einer Kirchengemeinde, die bis zum Zweiten Weltkrieg noch das ganze Gebiet des historischen Kirchspiels umfasste. Erst durch die Kirchenbauten in Kattenstroth, Spexard und im Miele-Viertel wurde sie in den 1950er Jahren zur Mutterpfarrei für nahezu alle Gütersloher Gemeinden mit Ausnahme der in Isselhorst, Avenwedde und Friedrichsdorf.

Stadtpark-Ansiedlung

Seit 1880 wurde durch den Verschönerungsverein die Anlage eines Stadtparks immer wieder vorgetragen. Der Vorstand dieses Vereins ließ sich dann nach jahrelanger Diskussion zum Zwecke der Vermittlung eines Grundstücks für den Stadtwald sogar ein Vorkaufsrecht für ein Heidegrundstück in Kattenstroth eintragen. Doch zeitgleich wird auch die Stadtverwaltung aktiv.

1906 erwarb die Stadt das Kolonat Osthus an der heutigen Verler Straße, um dort einen Stadtwald entstehen zu lassen. Diese Anlage erfreute sich bis 1935 großer Beleibtheit, wurde dann für die Nachrichtenkasernen der Luftwaffe überbaut.

Ebenfalls 1906 erwarb die Stadt Gütersloh ein Gelände beiderseits der heutigen Parkstraße in Sundern. Dieses an der Dalke teils brachige, an der Parkstraße sogar fruchtbare Gelände solle den wichtigsten Grundstock für die Entwicklung des Stadtparks und des Botanischen Gartens bilden.

Gestaltet wurden sowohl der Stadtwald zwischen etwa 1909 und 1914 als auch zeitgleich der Stadtpark nach Plänen des Ladschaftsgärtners W. Schoedder aus Iserlohn, der die Ausführung seinem Gärtner Paul Roehse überließ. Unter Schoedders Oberaufsicht entstand der Stadtpark asls Anlage nach dem Vorbild englischer Landschaftsgärten mit weit geschwungenen Wegen und unterschiedlichsten Gehölzgruppen, mit Ruhezonen und außergewöhnlichen Bäumen.

 

Seit 1912 entstand unter der Leitung des neuen Gütersloher Stadtgärtners Karl Rogge in direkter Nachbarschaft der Botanische Garten. Dieser Garten sollte als Vorbildgarten für die benachbarten Villen der Fabrikanten ebenso dienen wie als Schaugarten zur Anshauung einheimischer und fremdländischer Pflanzen – und zwar als Erholungsfläche wie auch für den naturkundlichen Unterricht in den Schulen.

Die Verbindung des Botanischen Garten mit dem Stadtpark war ganz bewußt angestrebt worden. Rogge selbst hatte die Anlagen weiter vervollkommnet und liebte Berichten zufolge den Blick von einer an der Dalke stehenden Bank über den Botanischen Garten und die Anlagen des Stadtparks hinweg bis zur (ehemaligen) Eiswiese.

Die Anlagen des Botanischen Gartens sind durch die Restaurierungsarbeiten 1992 und 1997/98 in ihrer Gesamtstruktur nun wieder ähnlich der Ursprungsplanung und nehmen auch in der anschließenden Erweiterung die Gedanken Rogges auf.

Eiswiese

Eiswiese im Sommer 1910
Eiswiese im Sommer 1910

Die Eiswiese südlich der Parkstraße und des Stadtparks war um 1900 einer der Treffpunkte des  Eislaufvergnügens. Es gab sogar einen Eisverein, der durch Eintrittsgelder musikalische Begleitung des Eislaufens und Feuerwerke finanzierte. Die Eiswiese entstand bei Frost als tieferliegende natürliche Eisfläche durch Zulauf von Wasser aus einem Nebenarm der Dalke. Hölzerne Stege und Balustraden an der westlichen Querseite der Wiese ermöglichten ungefährdeten Zutritt und Beobachtung der Eislaufenden.

Eiswiese im Sommer 1901/1902
Eiswiese im Sommer 1901/1902

Das Gelände verfiel nach dem Ersten Weltkrieg mangels Pflege zu einer brach liegenden Fläche. Um 1927 wurde auch die seinerzeit noch bestehende Liebesinsel abgetragen, die einst mit ihren Büschen den jungen Paaren Schutz vor allzu neugierigen Blicken geboten hatte.

Nach mehrjährigen Restaurierungsarbeiten ist die Eiswiese seit 2001 wieder nutzbar, wenn die dünne Wasserfläche gefriert.

Miele-Ansiedlung

Teilansicht der Firma Miele um 1919
Teilansicht der Firma Miele um 1919

Mit der Ansiedlung der Herzebrocker Maschinenfabrik Miele entstand 1907 erstmals auch in der Bauerschaft Nordhorn ein Industriebetrieb nennenswerter Größe.

Carl Miele und Reinhard Zinkann begannen den Aufbau ihres Unternehmens jedoch nicht ohne eine solide Basis, den sie übernahmen von August Verleger dessen kurz zuvor fertiggestellte Gießerei in der Nähe der Staatsbahn-Linie, der Teutoburger Wald Eisenbahn und an der Chaussee nach Avenwedde.

Die Stadt Gütersloh und die Landgemeinde waren an der Übersiedlung des expandierenden Maschinenbauers sehr interessiert und errichteten in kurzer Zeit eine lange Gas-Zufuhrleitung aus der Stadt nach Nordhorn, damit Miele wunschgemäß von Anfang an seine elektrische Energie mit Gasmotoren herstellen konnte.

Briefkopf mit nahezu realer Firmendarstellung für die Zeit um 1914 bis 1920
Briefkopf mit nahezu realer Firmendarstellung für die Zeit um 1914 bis 1920

Erstmals war mit Verlegers Gießerei und den rasch wachsenden Fabrikations- und Verwaltungsgebäuden Mieles das bisher als Industrieansiedlungsgebiet vorgehaltene Eingemeindungsgebiet von 1868 in nordöstlicher Richtung überschritten worden.
Dieser einsetzenden Entwicklung folgte die Stadt 1924 bei der Aufstellung eines Generalbebauungsplanes und schlug für das gesamte Gebiet vor allem Wohnanlagen für Arebiter und Industrieflächen vor.